Die Altarbilder „Mendener Kreuztracht“ und „Simon von Cyrene“ von Thomas Jessen 2016 im barocken Retabel aus dem Jahr 1685 in der St.-Vincenz-Kirche in Menden
„Eine historische Darstellung nimmt dem Thema die Schärfe“, so begründete Jessen bei der Vorstellung der Altarbilder für das barocke Retabel seine Idee, statt des sonst üblichen Themas einer Kreuzigung ein Bild der Mendener Kreuztracht zu schaffen. Damit überträgt er das historische Geschehen in die Jetztzeit und versetzt die Passion in das heutige Mendener Umfeld. Die für Menden so einzigartige, über dreihundert Jahre alte Tradition der Kreuztracht erhält damit überzeitliche Bedeutung und wird als heute noch lebendiger und zeitgemäßer Ausdruck religiösen Lebens in unserer Stadt manifestiert.
Rot sehen
Der Blick des Betrachters wird unmittelbar von dem purpurroten Übergewand des Kreuzträgers angezogen. Mehr Aufmerksamkeit kann keine Farbe erregen. Das leuchtende Purpurrot – die antike Kaiserfarbe als Symbol für Macht und Herrschaft – gilt in der christlichen Farbsymbolik seit Jahrhunderten als Zeichen für die Liebe des Schöpfers zu den Menschen, für die er seinen einzigen Sohn hingibt. Rot ist der Mantel Gottvaters, häufig auch der Gottesmutter. Rot ist auch die Farbe der Märtyrer, Rot ist das Blut, das Christus für uns vergossen hat. König der Juden, so wurde Christus verhöhnt, als Pilatus ihn vor die aufgebrachte Menge führen ließ, angetan mit dem Purpurmantel und mit einer Dornenkrone auf dem blutüberströmten Haupt. „Kann man einen Herrscher noch lächerlicher machen?“, heißt es dazu in den Texten der Mendener Kreuztracht. In starkem Kontrast dazu leuchtet uns das ungetrübte Weiß des Untergewandes entgegen. Das weiße Kleid deutet schon auf den verklärten Christus hin, es symbolisiert das ungebrochene, das göttliche Licht, die unbedingte Wahrheit – Hinweis auf die Auferstehung. In diesen Gewändern tritt auch der Mendener Kreuzträger am Karfreitag seinen Kreuzweg an.
Christus vergießt sein Blut, um uns von unserer Schuld zu erlösen, aus Liebe zu uns. Dieses Blut zieht sich durch die Streifen der angedeuteten Jalousie im Bildhintergrund, welche die verschiedenen Erzähl- und Bedeutungsebenen trennt: Im Vordergrund steht der Mendener Kreuzträger, der gleichsam Christus darstellt, der in seiner Nachfolge zu Christus wird – ergeben, den Blick demütig gesenkt, bereit, seinen Auftrag zu erfüllen. „Wer mir dienen will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Es ist einer von uns, der stellvertretend für uns alle die Kreuznachfolge antritt, unser aller und seine persönlichen Anliegen vor Gott bringt und sich in den Dienst der Nächstenliebe stellt. Damit wird er in eine überzeitliche und überirdische Dimension gestellt: Christus hat die Grenzen des Hier und Jetzt überwunden, er ist den irdischen Gesetzmäßigkeiten entrückt. Er nimmt den Bildraum vor der Jalousie ein, er steht uns unmittelbar, durch die realistische Art der Darstellung geradezu unausweichlich gegenüber. Wir schauen zu ihm auf, er aber senkt den Blick. So steht der Ecce Homo vor uns: Seht, welch ein Mensch! So steht auch der Mendener Kreuzträger an jedem Karfreitag vor den Gläubigen, die zusammen mit ihm den Bußweg antreten.
Das Rot des Gewandes und der Jalousie steht dabei in unmittelbarem Bezug zu der roten Farbfassung des barocken Retabels. Es ist das Fürstenberger Rot, das sich in der barocken Kanzel sowie in den Altären der Kreuzkapelle auf dem Rodenberg aus dem Jahr 1685 wiederfindet, die ebenfalls Stiftungen der Familie von Fürstenberg sind. Es war Friedrich Christian Freiherr von Fürstenberg, welcher der Stadt die Reliquie eines Splitters vom Heiligen Kreuz stiftete, die für die Mendener Kreuzverehrung von entscheidender Bedeutung war.
Ein Mendener Kreuzmeister
Die Jalousie, deren Lamellen die verschiedenen Rottöne ineinanderfließen lässt, ist geöffnet. Sie ist durchlässig und gewährt Durchblicke von beiden Seiten. Hinter der Jalousie ist die Bildebene des Diesseits.
Der jetzige Mendener Kreuzmeister, der als Begleiter der Kreuztrachten eine jahrzehntelange Familientradition fortsetzt, ist als Fotoporträt deutlich zu erkennen. Einer von uns, den wir kennen, der zu uns gehört. Durch die blutroten Streifen der Jalousie hindurch gewinnen wir Einblick, Durchblick und Erkenntnis: Wir schauen von einer Dimension in eine andere und wir werden selbst angeschaut. Während der geschundene Christus zu Boden blickt, schaut der Kreuzmeister uns an.
Durch die Einbindung eines Fotoporträts wird eine unausweichliche Begegnung mit der Realität, mit dem Hier und Jetzt geschaffen. Eine historische Darstellung oder ein verallgemeinerndes Bildnis bieten die Möglichkeit zum Ausweichen. Sie haben nicht die klaren, bisweilen scharfen Konturen der Wirklichkeit mit der unausweichlichen Aussage: ICH bin gemeint, ICH bin berufen, ICH muss bekennen. „Ein Bild schafft Präsenz, die sogar zu nahe treten kann“ – das unterscheidet für Jessen ein Gemälde von einer Fotografie und macht die Botschaft eines Bildes damit zu einer Herausforderung, die auch Widerspruch erregen kann. Das Fotoporträt des jetzigen Kreuzmeisters auf der Haupttafel eines Altarretabels, das ist eigentlich ein ungeheuerlicher Bildgedanke: Das Passionsgeschehen wird damit aus der schützenden räumlichen und zeitlichen Distanz unerwartet und überraschend in unsere Gegenwart und unser eigenes räumliches Umfeld transportiert. Das Leiden und Sterben des Herrn geht uns an, unmittelbar und schmerzhaft direkt, es fordert unser eigenes Bekenntnis heraus und lässt sich nicht mehr auf Abstand halten. Einer von heute, einer von uns hält stellvertretend für uns alle sein Gesicht hin. Einer von uns trägt für uns alle das Kreuz, mit dem wir uns zu Christus und seiner Liebe bekennen und in seine Nachfolge treten. Das bekannte Gesicht des Kreuzmeisters ebenso wie die Gestalten des Kreuzträgers und des Simon von Cyrene verorten das Leiden und Sterben Jesu Christi in unser Hier und Jetzt, mitten in unser Leben.
Simon von Cyrene
Auch Simon von Cyrene begibt sich in die Nachfolge Christi: Er ist der erste in der Nachfolge des Kreuzträgers, er trägt zusammen mit Christus das Kreuz. Aber er tut dies nicht freiwillig, sondern wird von den Soldaten gezwungen, als er von der Feldarbeit kommt. Die Soldaten sind verantwortlich dafür, dass Jesus erst am Kreuz stirbt und nicht schon auf dem Weg nach Golgotha. In grobes braunes Leinen gekleidet fasst Simon an das Ende des Kreuzes und erfasst im wahrsten Sinn des Wortes das Geschehen.
Es ist der Moment seiner inneren Umkehr, er wendet sich vom Diesseits ab, um aus dem Bild heraus in eine andere Welt zu gehen, vom Künstler geschildert mit höchster mystischer Intensität der Stimmung. Er hält sich einzig und allein am Kreuz fest. Wir sehen sein Gesicht nicht, wir können nicht erschauen, was er sieht. Und doch identifiziert sich der Bildbetrachter durch seinen eigenen Standpunkt unbewusst mit der Rückenfigur. Immer weiter trägt Simon das Kreuz, unendlich einsam und doch zielgerichtet, durch das Dunkel der Nacht, das kein Schwarz ist, sondern in der Durchmischung mit Nachtblau bereits den österlichen Morgen durchschimmern lässt. Noch nie wurde Simon von Cyrene in der christlichen Kunst so dargestellt, er führte eher eine Art Schattendasein als Randfigur auf überfüllten Kreuztragungsszenen. Auch Simon wird hier zu einem von uns, zu einem, für den die Begegnung mit Christus die entscheidende Wendung in seinem Leben bringt.
Neue Bildideen
Diese beiden völlig neuen Bildideen mit ihrem ganz speziellen Bezug auf Menden und die Tradition der Kreuztracht sind teilweise in altmeisterlicher Manier gemalt, etwa bei der ausdrucksvollen Darstellung des Gesichtes des Kreuzträgers oder seiner gefalteten Hände, teilweise mit dem neuesten technischen Verfahren des Fotodrucks auf die großformatige Leinwand aufgebracht. In ihrer ungewöhnlichen Interpretation erheben sie den barocken Altar, der heute nicht mehr als Ort der Eucharistie dient, sondern den Tabernakel aufnimmt, zu einer eindrucksvollen und zeitgemäßen Andachtsstätte, bei der historische und künstlerische Ausdrucksformen mit moderner Bildgestaltung eine Einheit ergeben. Die ergreifend realistische, ja unausweichliche Aussage ist gleichzeitig von einem tiefen Symbolgehalt getragen. Indem die Grenzen von Raum und Zeit, von Diesseits und Jenseits durch die geöffneten Jalousien durchlässig werden, verschmelzen die historische Kreuztragung und die heutige Mendener Kreuztracht zu einer Einheit, werden Christus und der Mendener Kreuzträger eins – EINER VON UNS.
Das Schmittmann-Retabel
Das Schmittmann-Retabel wurde zwischen 1684 und 1688 von dem Mendener Bildhauer und Schreiner-meister Ernst Romberg geschaffen und gestiftet von dem Mendener Bürgermeister und Richter Wennemar Schmittmann und seiner Frau Anna Maria von Mellin.
Nach seiner spektakulären Wiederentdeckung auf dem Dachboden des Turmes wurde der ehemalige Hauptaltar der St.-Vincenz-Kirche in der Kunsttischlerei Adolph Vössing und der Restaurierungswerkstatt Ars Colendi restauriert und 2014 an der Ostseite des nördlichen Querhauses aufgestellt.
Thomas Jessen
Thomas Jessen gehört zu den bedeutendsten deutschen Malern unserer Zeit. Er malte u. a. die Porträts der Erzbischöfe von München und Freising, ein Auftrag von Kardinal Reinhard Marx, für die Bildergalerie im Münchner Palais Holnstein. Jessen gestaltete ein Wandbild für die Taufkapelle in der romanischen Kirche St. Pantaleon in Köln und einen Kreuzweg für die Kirche St. Norbert in Werl. Auf Empfehlung von Prof. Dr. Christoph Stiegemann, Leiter der Kunstkommission der Erzdiözese Paderborn und Direktor des Erzbischöflichen Diözesanmuseums, erhielt Thomas Jessen 2015 den Auftrag, für das Schmittmann-Retabel in der St.-Vincenz-Kirche zwei Altarbilder zu malen. Der Künstler lebt und arbeitet in Eslohe.